Verband Bayerischer Rechtspfleger

Der Kurzvortrag von Dipl.-Rpfl. (FH) Klaus Rellermeyer im Wortlaut

100 Jahre Rechtspfleger

01. Juni 2023

Beim Festakt am 22. Mai 2023 hielt Herr Diplom-Rechtspfleger (FH) Klaus Rellermeyer, Ehrenmitglied des Bundes Deutscher Rechtspfleger und vielbeachteter Autor u.a. eines Kommentares zum Rechtspflegergesetz sowie häufiger Ansprechpartner des BMJ zu rechtlichen Fragen, einen Kurzvortrag zum Anlass der Feier des Verbands, also zum "Geburtstag" der Namensgebung unseres Berufsstandes. Dies ist der Wortlaut:

>>Das Thema der heutigen Veranstaltung ist "100 Jahre Rechtspfleger". Ich bedanke mich für die Gelegenheit, in aller Kürze einen Überblick über die Geschichte unseres Berufsstandes und der Bezeich-nung "Rechtspfleger" geben zu dürfen.
Gelegentlich wird – eher scherzhaft – darauf hingewiesen, dass der Rechtspfleger bereits in der Bibel erwähnt wird. In der Tat findet sich in einer Übersetzung des Buches Esra – Kapitel 7 Vers 25 – der Text "Du aber, Esra, setze nach der Weisheit deines Gottes, die in deiner Hand ist, Richter und Rechtspfleger ein, die allem Volk Recht sprechen." Gewiss sind damit aber nicht die Rechtspfleger in unserem Sinne gemeint. Horst Schiffhauer hat daher bemerkt, dass dieses Bibelzitat zwar den eitlen Rechtspfleger freue, sachlich aber nichts brächte.
Der Berufsstand des Rechtspflegers hat sich aus dem Amt des Gerichtsschreibers entwickelt. Vorschriften über das Gerichtsschreiberamt finden sich etwa in den Reichskammergerichtsordnungen von 1495, 1521 und 1555 und – erstmals unter dem Namen "Gerichtsschreiber" – in der Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. von 1532. Der Prozess war damals beherrscht vom Schriftlichkeitsprinzip. Im gemeinrechtlichen Prozess waren nur die vom Gerichtsschreiber zu Protokoll festgehaltenen Erklärungen und Beweisergebnisse Gegenstand der Urteilsfindung. Der Gerichtsschreiber genoss daher hohes Ansehen. Im 17. Jahrhundert waren Richter teilweise neben ihrem Richteramt als Gerichtsschreiber tätig.
Im 18. und 19. Jahrhundert wurde der gemeinrechtliche Prozess durch landesrechtliche Prozessordnungen abgelöst. Damit gingen ein Wandel zum mündlichen Verfahren und eine Abgrenzung der Tätigkeit des Richters von derjenigen der sogenannten "Subalternbeamten" einher, z. B. durch die Preußische Allgemeine Gerichtsordnung von 1795. Der Gerichtsschreiber wurde zum reinen Bürogehilfen. Das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 regelte die Stellung des damals als bedeutungslos angesehenen Gerichtsschreibers nur in den Grundzügen.
In seiner Rede im Preußischen Herrenhaus vom 30. März 1906 und in seiner Schrift "Grundlinien durchgreifender Justizreformen" forderte der Frankfurter Oberbürgermeister Adickes eine drastische Verringerung der Richterzahl und eine Entlastung der Richter durch Gerichtsschreiber. Daraufhin wurde durch eine preußische AV vom 25. April 1906 angeordnet, dass die Richter mittels Anfertigung von Entwürfen durch Gerichtsschreiber zu unterstützen seien.
Die Zivilprozessnovelle vom 1. Juni 1909 wird im Schrifttum als die Geburtsstunde des Rechtspflegers angesehen, denn sie sah erstmalig eine Übertragung von Aufgaben – Kostenfestsetzung und Erteilung von Vollstreckungsbefehlen – zur selbständigen Erledigung auf den Gerichtsschreiber vor. Damit trat der Gerichtsschreiber auch nach außen als verantwortliches Rechtspflegeorgan in Erscheinung. Wir erkennen allerdings, dass dies nicht der Anlass für die heutige Veranstaltung sein kann, denn das Jahr 1909 liegt nicht 100, sondern schon 114 Jahre zurück.
Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte des Rechtspflegers war Artikel VI des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte vom 11. März 1921. Durch diese Vorschrift wurden die Länder zur Übertragung vordem richterlicher und staatsanwaltlicher Geschäfte auf den Gerichtsschreiber ermächtigt. Vorbild für zahlreiche darauf ergangene Regelungen anderer Länder war die preußische Entlastungsverfügung vom 28. Mai 1923, welche die Übertragung des Erlasses von Zahlungsbefehlen, der Forderungspfändung, vormundschaftsgerichtlicher Geschäfte, bestimmter Grundbuch-, Nachlass- und Registersachen sowie von Geschäften der Strafvollstreckung vorsah.
In dieser preußischen Entlastungsverfügung wurden die Beamten, welche zur selbständigen Wahrnehmung richterlicher und staatsanwaltlicher Geschäfte ermächtigt waren, erstmals „Rechtspfleger“ genannt. Paul Wedewer, Schriftleiter der Fachzeitschrift „Der Deutsche Rechtspfleger“ von 1948 bis 1967 und sodann Mitherausgeber bis zu seinem Tod 1981, nannte dies „das Fest der Namensgebung für den Rechtspfleger“. Die neue Bezeichnung wurde kurz darauf auch in Sachsen, Baden, Lippe-Detmold und Schaumburg-Lippe sowie in Danzig und im Saargebiet eingeführt.
Der 100. Jahrestag dieser preußischen Verfügung, den wir in wenigen Tagen begehen können, ist somit der Anlass für unsere heutige Veranstaltung. Bemerkenswert ist, dass dieses Ereignis gerade in Bayern festlich begangen wird. Zur Ehrenrettung Bayerns darf ich hinzufügen: Bayern hat zwar nicht die Be-zeichnung "Rechtspfleger" erfunden, war seinerzeit aber den Preußen in anderer Hinsicht voraus. Die bayerische Entlastungsverfügung wurde nämlich bereits am 6. April 1921 erlassen, also nicht einmal einen Monat nach der Schaffung ihrer reichsrechtlichen Grundlage und mehr als zwei Jahre vor der preußischen Verfügung. Die Texte aller damals erlassenen Entlastungsbestimmungen der Länder hat übrigens Erich Sarkamm 1927 in seiner Schrift "Die gesetzlichen Grundlagen der Rechtspflegertätig-keit" zusammengestellt.
Zu jener Zeit hatte die Bezeichnung "Gerichtsschreiber" – wie bereits im Jahr 1911 in der Zeitschrift für Deutsche Justizsekretäre beklagt wurde – "in der Allgemeinheit zu einer vollständigen Verkennung der Bedeutung des Gerichtsschreiberamts geführt." "Diese unglückselige Benennung [gab] sogar zur Verunglimpfung des ganzen Standes Veranlassung." Es sei bekannt, dass „unter einem Schreiber ... ein Mann von geringer Vorbildung, mit beschränktem Gesichtskreise, unbedeutendem Können, aber viel Anmaßung und Einbildung“ verstanden werde. "Ein wesentlicher Teil seiner Aufgabe ist entscheiden-der Natur und besteht eigentlich in richterlichen Funktionen" und habe "nichts mit einer mechanischen Schreibtätigkeit zu tun."
Die Berufsverbände waren daher bestrebt, eine ihre Stellung und ihr Wirken besser ausdrückende Be-zeichnung zu erreichen. Ihre lange Zeit vergeblichen Bemühungen und die damals diskutierten Alternativen – Gerichtsnotar, Justizsekretär, Rechtspflegebeauftragter, Rechtspflegehelfer, Rechtshelfer, Amtsgehilfe, Amtshelfer, Rechtswart, Bürobeamter mit Rechtspflegebefugnis, Richtergehilfe, Aushilfsrichter, Ersatzrichter – schildert Paul Schuster in seinem Beitrag "Vom ‚Gerichtsschreiber‘ zum ‚Rechtspfleger‘" im Rechtspflegerblatt 1973 S. 25. Ab etwa 1921 verwendeten das Preußische Justizministerium und die nachgeordneten Dienststellen die Bezeichnung "Rechtspflegeorgan", so im Entwurf der Entlastungsverfügung von 1923. Auch diese Bezeichnungen wurden allerdings nicht als ge-eignet und befriedigend empfunden. Schließlich wurde "nur aus praktischen Gründen der Einfachheit halber" – so in einer Rundverfügung des Preußischen Justizministeriums vom 29. Mai 1923 zur Erläuterung der Entlastungsverfügung – die Bezeichnung "Rechtspfleger" gewählt. Sie bürgerte sich rasch für diejenigen Beamten ein, denen Geschäfte der Richter und Staatsanwälte zur selbständigen Wahrnehmung übertragen worden waren. Der ehemalige Gerichtsschreiber wurde dagegen 1927 "Urkundsbeamter der Geschäftsstelle".
Die Entlastungsverfügungen der Länder blieben in Kraft, bis sie durch die vereinheitlichende Reichs-Entlastungsverfügung vom 3. Juli 1943 abgelöst wurden. Das Rechtspflegergesetz vom 8. Februar 1957 brachte die erste gesetzliche Regelung der Stellung und der Aufgaben des Rechtspflegers, teilweise in Anlehnung an die Reichs-Entlastungsverfügung. Es wurde durch das Rechtspflegergesetz vom 5. November 1969 abgelöst, das mit bisher 122 Änderungsgesetzen bis heute gilt.<<